Zerrissenheit – Freiheit – Einsamkeit
Georg Simmel und die Torsi von Gertrud Gölz

Wenn sich manchmal Einbildung i die Wahrnehmung schleicht und die Traumgesichte des Visionärs möglich scheinen, verändern sich die Gegenstände der Betrachtung schlagartig, stehen plötzlich für anderes, tragen fremden Sinn. Aber die Metamorphose der Dinge ist oftmals so verblüffend wie vergänglich. Kaum dass der neue Eindruck sich zeigte ist er bereits vergangen und zurück bleibt eine merkwürdige Leere mit einer nicht formulierbaren Erinnerung an das gerade noch Empfundene. Bisweilen aber lässt sich der schlaglichtartige Eindruck der veränderten Umwelt und der Gegenstände in ihr zurückholen und ihn, in eine verbalisierte Form gezwungen, dem Verschwinden entreißen.


Die Torsi von Gertrud Gölz waren für einen Hauch des Bewusstsein einmal Objekte einer solchen Verwandlung. Aber die Begleitungsumstände gewissermaßen der Horizont der Konnotationen zu dem Zeitpunkt, waren glücklicherweise in einem Ausmaß offensichtlich, dass die Rekonstruktion des Eindrucks gelingen konnte. Bis zu einem gewissen Maße unterscheidbar bleibt dabei, was Re-Konstruktion eines unwillkürlichen und flüchtigen Eindrucks und was nachträgliche Konstruktion eines Gedanken ist. Für die kleine soziologische Betrachtung der Keramiken von Gertrud Gölz spielt diese Frage aber ohnehin keine Rolle.


Wenn in Soziologie-Lehrbüchern bisweilen bildliche – nicht grafische – Darstellungen theoretischer Zusammenhänge präsentiert werden, hat die Sache meist gute Chancen, peinlich zu werden. Den Verantwortlichen für die kreative Umsetzung des Theoretischen ins Bildliche scheint dabei öfter das großartige Frontispiz des „Leviathan“ vorzuschweben, jenes Werkes, in dem der englische Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert seine Theorie des Staates und des absoluten Herrschers ausfaltete. Passgenau zu seiner Theorie ist dort nämlich ein riesenhaft dargestellter Herrscher zu sehen, der die Städte und Dörfer im Vordergrund ebenso wie die gesamte Landschaft und die Berge des Hintergrundes überragt. Die Schildplatten der Rüstung, die er trägt sind einzelne kleine Menschen. Das ist die Idee des Hobbes’schen Herrschaftsvertrages: Der absolute Herrscher, der Leviathan, ist das Ergebnis einer vertraglichen Übereinkunft der einzelnen Menschen, sich einem solchen souverän unterzuordnen. Er entsteht nur und allein durch deren Übereinkunft, hat dann aber absolute Gewalt über sie.


So gibt es dort also eine treffliche Übersetzung einer Theorie in ein Bild. Wie aber steht es mit der Übersetzung eines Bildes oder einer Keramik in eine Theorie= Nun stehen die Torsi von Gertrud Gölz ja nicht ohne begleitende Aussagen im Raum. Die Keramiken selbst tragen gar eine Inschrift: „Wie’s innen aussieht, geht keinen was an.“ Wir sehen Torsi von androgyner Gestalt; es sind alles Rückansichten, die Körper wenden sich von uns ab. Sie sind alle gleich an Form, denn sie entstammen alle der gleichen Gießform, deren Rand auch bei allen eindeutig erkennbar ist. Jenseits dieser augenfälligen Gleichheit aber sind alle je verschieden, ist ein Torso anders als der andere. Denn jede Gießform ist eben nicht ausgegossen mit Ton, sondern ausgefüllt mit aneinandergefügten Fettzen von Ton. Es ist ein Flickenteppich, eine flache die aussieht wie gerissen und als Puzzle wieder sorgfältig zusammengesetzt. Einzelteile, die – wie im Leviathan – mehr bilden als die Summe der Teile.


Dem soziologischen Betrachter, erschöpft von einem heißen Sommertag, anfällig für Ablenkung und nicht mehr in der Lage, seine Wahrnehmung zu fokussieren, sich dabei aber dem Fluß der Eindrücke und gedanklichen Querverbindungen willig überlassend, stellten sich die Torsi nun plötzlich als Gestalt gewordene Theorie eines klassischen Soziologen dar. Normalerweise wäre eine lineare Übersetzung von figürlicher Keramik in soziologische Theorie ein Affront gegen die Künstlerin und die Identifizierung von künstlerisch-handwerklichen Mitteln mit soziologische-theoretischen Aussagen purer Schwachsinn. Allein der Eindruck des Augenblicks, die unwillentlich Identifizierung der Keramikerin mit einer Theorie, rechtfertig das keramisch-soziologische Übersetzungsspielchen.


Es war der Soziologe und Philosoph Georg Simmel, der 1908 in seinem berühmten Text über die „Kreuzung sozialer Kreise“ beschrieb, wie die Individualität, die dem modernen Menschen jenseits seiner biologischen Individualität zukommt, davon abhängt, dass er sich in verschiedenen und voneinander getrennten sozialen Kreisen bewegen kann. Oder anders ausgedrückt: Dass diese Form von Individualität eben erst in der Moderne möglich ist, in der allererst solche voneinander getrennten Kreise für ein Individuum „betretbar“ sind.  Im Gegensatz zu einer Gesellschaft, in der sich das ganze Leben mit dem gleichen Menschen abspielt, in der es keine große Bandbreite an sozialen Aktivitäten gibt und an sich alles, was gesellschaftlich möglich ist, auch von allen mehr oder weniger gleicht getan wird, ist die moderne Gesellschaft dadurch charakterisiert, dass ich in ungleich größerem Maße meinen Beruf, meine Hobbies, meine sonstigen Tätigkeiten und Aktivitäten auswählen kann. Meine Herkunft oder meine Familie bestimmen (theoretisch) nicht die Wahl z. B. Meines Berufes. Und meine Berufswahl hat, außer in Ausnahmefällen, keine Konsequenz für die Wahl meiner Hobbys. Und diese wiederum spielen keine Rolle für meine politischen oder religiösen Überzeugungen, so in ich denn überhaupt welche habe. Wir sind insofern alle gleich, als wir alles Berufe, Hobbys und religiöse oder politische Einstellungen haben oder zumindest haben können. Aber in der je eigenen Zusammensetzung, in der einzelnen Auswahl dieser von Simmel so genannten „sozialen Kreise“ sind wir eben einzigartig. Das macht so Simmel, unsere Individualität aus. In der einzelnen Person laufen die von ihr ausgewählten Kreise zusammen: Das Individuum ist der Schnittpunkt der sozialen Kreise. In der Gießform Gesellschaft ist jedes Individuum durch die Auswahl der Kreise bestimmt, ist jeder Torso durch die eigene Zusammensetzung der Tonfetzen ausgezeichnet.


Diese Aufgesplittertheit der Menschen in multiple soziale Kreise kann man positiv und negativ benennen: Als Vielfältigkeit oder als Zerrissenheit. Der Vielfältigkeit entspricht die Freiheit, die das Individuum bezüglich seiner Lebensgestaltung hat, und die kein anderes historisches Individuum je hatte. Der Zerrissenheit entspricht die Einsamkeit. Man ist überall, aber nirgendwo ganz. Diese ambivalente Struktur ist und alltäglich, freilich ohne, dass dies für uns stets zu dramatischen Situationen führen müsste.

Es ist für uns ja eine alltägliche Erfahrung, dass wir im Menschen zu tun haben, beruflich oder in der Freizeit, von denen wir nicht viel mehr wissen, als eben das, was notwenig für den jeweiligen Umgang ist. Ich brauche über das Privatleben meines Arbeitskollegen nichts zu wissen, um mit ihm bestens beruflich zusammen u arbeiten. Umgekehrt kann ich mich mit meinem Nachbarn unter Umständen sehr vertraut über Privates unterhalten, ohne mich je mit ihm über seine oder meine beruflichen Aufgaben ausgetauscht zu haben. In den meisten Fällen ist diese Tatsache angenehm – ich bin frei, von mir preiszugeben oder eben nicht preiszugeben, was ich möchte – und effizient. Wenn ich mit jedem Arbeitskollegen alle politische, musikalischen, religiösen, kulinarischen oder sonstigen Fragen einig sein müsste, bevor meine Zusammenarbeit möglich ist, käme eine Zusammenarbeit so gut wie nie zu Stande. Auf der anderen Seite ist diese Tatsache problematisch: Vom engen Kreis der Familie abgesehen deren räumlicher Zusammenhalt überdies zusehends aufgrund von Arbeitsplatzsuche und ähnlichem bedroht ist, führt die Unabhängigkeit der sozialen Kreise voneinander auch dazu, dass die Individuen zwar an viele Kreise angeschlossen sind, mit steigender Anzahl der Kreise aber der Teil ihrer sozialen Identität immer kleiner wird, mit dem sie dir vertreten sind. Nirgendwo werden alle Facetten und Aspekte der Individualität präsentiert oder wahrgenommen. Eine spezifische Form von Entfremdung und Einsamkeit ist die Folge. „Wie’s drinnen aussieht geht keinen was an“ ist die Losung der Freiheit des Einzelnen. „Wie’s drinnen aussieht nimmt keiner wahr“ ist die immer mögliche traurige Kehrseite dieser Freiheit.


Die von Gertrud Gölz geschaffenen Torsi verdienen aus eigenem Recht eine intensive und vor allem ästhetische und künstlerische Betrachtung. Dass sie aber auf frappierende Weise so gut zu einer hervorragend und wirkmächtigen soziologischen Theorie passen, soll ihr Schaden sicher nicht sein.


Dr. Matthias Hoffmann
Trier, den 19.04.2010